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Die Weihnachtsgeschichte

Dieser Text ist 2017 entstanden und erinnert mich auch 2021 immer noch daran, was zu Weihnachten für mich wirklich wichtig ist… In meinem Inneren – da schlummert nämlich die polnische Weihnachtstradition, die zwickt und drückt und ermahnt, dass eigentlich 12 Speisen am Heiligabend auf dem Tisch stehen sollten, dass sie alle ganz perfekt schmecken und auf traditionelle Art zubereitet werden sollten und dass die Fensterscheiben glänzen müssen… Dann lese ich diesen Text und erinnere mich an die Weihnachten 2017 und daran, was wirklich zählt.

Es ist Freitag, der 23. Dezember, ein grauer und unangenehm kühler Tag und ich renne gerade einem Krankenwagen hinterher. Sogar auf den Straßen von unserem kleinen Ort ist Einiges von dem Weihnachtstrubel zu spüren. Der Krankenwagen kommt durch die einzigen zwei größeren Kreuzungen auch mit Sirene nicht besonders flott durch. Zum Glück, denn so kann ich mithalten. Ich weiß, dass er zur Praxis von unserem Kinderarzt fährt, um von dort meine Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Sie hatte in der Praxis erneut einen langen epileptischen Anfall. Der Papa ist bei ihr, aber ich will unbedingt mitfahren. Deswegen renne ich. Zum Umziehen war nach dem telefonischen Update von meinem Mann keine Zeit. Wie gut, dass ich heute nicht die furchtbare Schlabberhose angezogen habe, die ich trotz der skeptischen Blicke meines Ehegatten doch ab und zu mal zuhause trage.

Mitten in der Nacht hatte Hela zum ersten Mal die epileptischen Anfälle, vor denen wir schon seit der Diagnosestellung Angst hatten. Epilepsie gehört zum Syndrombild dazu: wir wussten, dass sie irgendwann mal kommen werdem. Vorbereitet ist man darauf trotzdem nie. Die Uhr sagte, die Anfälle in der Nacht dauerten nicht lange – gefühlt eine Ewigkeit. 1 Minute… 2 Minuten… 2 Minuten in denen ein Tornado im Gehirn und Körper meiner Tochter wütet und ich nichts machen kann, außer sie im Arm zu halten, auf die Uhr zu schauen und nach 3 Minuten das Notfallmedikament zu verabreichen. Diesmal kommt sie ohne aus und schläft irgendwann mal vollkommen erschöpft ein. Morgens macht sie einen munteren Eindruck, der Papa nimmt sie trotzdem zum Kinderarzt und dort passiert es wieder. Sie krampft – ein „Grand Mal“ Anfall, der Kinderarzt beschließt einen Krankenwagen für uns zu rufen, der uns in die Klinik bringt. Es ist ein Tag vor Heiligabend, bald wird ja überall tote Hose sein.

Im Krankenhaus wird uns empfohlen da zu bleiben. Hela kommt zwar zu sich, es waren aber die ersten Krampfanfälle und keiner weiß, was noch passieren kann. Vielleicht ist es vorbei, vielleicht krampft sie gleich wieder. Auf der Flur steht ein geschmückter Weihnachtsbaum. Ich überlege, ob wir unsere Geschenke morgen darunter legen sollen oder ob der Weihnachtsmann dieses Jahr an einem anderen Tag kommen soll. Unser Sohn wartet ja seit Wochen auf den Weihnachtsmann… Jetzt ist die Hälfte der Familie weg im Krankenhaus und keiner weiß, wie es weiter geht.

Wegen Helas Schlafstörung wurde uns eigentlich ein Einzelzimmer zugesprochen. Es ist aber ganz schön was los einen Tag vor Weihnachten und so landen wir doch mit einem anderen Jungen und seiner Mutter im Zimmer. Das Kind ist in Helas Alter. Es rennt fröhlich hin und her, ruft „Mama“ und sonst auch einzelne Wörter in einer mir unbekannten Sprache. Der Junge ist wegen Fieberkrämpfe hier. Mir ist überhaupt nicht nach Krankenhaus-Smalltalk und Erklärungen zu Helas Syndrom. Keine Lust auf die mitleidigen Blicke, auf “Oh, wie furchtbar, das tut mir leid…” und auch nicht auf die Vergleiche, die auf “Da können WIR uns ja gar nicht beschweren” hinauslaufen. Glücklicherweise ist der anderen Mutter auch nicht nach Reden. In der Nacht werden wir mit Hela immer wieder von den lauten Rufen des Jungen geweckt. Er redet im Schlaf und zwar in der Lautstärke, die einen Toten geweckt hätte und auf jeden Fall ein schlafgestörtes Mädchen und dessen Mutter.

Am nächsten Tag kommen wir mit der anderen Mama doch ins Gespräch.

„Ich weiß nicht, warum ich so müde bin“, sagt sie. Dann fängt sie an zu erzählen, als wollte sie ihre Müdigkeit rechtfertigen. Der Junge redet nachts so laut, weil er auf einem Ohr ganz schlecht hört. Das ist bereits das 6. Mal, dass sie mit ihm wegen Fieberkrämpfe ins Krankenhaus musste. Das ist aber halb so wild, meint sie. Mit seinem Zwillingsbruder ist sie viel öfters in diversen Krankenhäusern. Sie kennt eigentlich alle in der Stadt. Deutsch hat sie ja dort gelernt – mit den Krankenschwestern. Sie spricht ein sehr anständiges Deutsch. Die Zwillinge sind beide Frühchen, in der 25. Woche geboren. Sie waren lange im Krankenhaus nach der Geburt. Der andere Bruder hat Trisomie 21, das Down-Syndrom und durch die Frühgeburt Probleme mit fast allem, vor allem aber mit der Atmung. Epilepsie hat er auch. Sie können mit ihm nicht so einfach rausgehen in den Park oder auf den Spielplatz, weil er an so vielen Schläuchen hängt. Immer muss eine Sauerstoff-Pumpe mit. Das ist schwierig wegen seines Zwillingsbruders und der 3 älteren Schwestern. Sie würden ja gerne öfter zum Spielplatz mit der Mama. Die Frau beschwert sich nicht. Sie erzählt sachlich und sehr gefasst und passt währenddessen liebevoll auf ihren Sohn auf, der hin und her rennt und eindeutig genug von dem engen Krankenhauszimmer hat.

Es ist Heiligabend. Nach stundelangem Warten dürfen wir am Nachmittag doch beide nach Hause. Der Papa holt uns ab und wir fahren die andere Mama und ihren Sohn heim. Ihr Mann muss ja auf die anderen Kinder aufpassen und da sie neu in der Stadt, sind, kennen hier kaum jemanden, wer sie sonst abholen könnte. Und als der Junge gekrampft hat, war die Mama so unter Strom, dass sie vergessen hat eine Jacke und Mütze für ihn einzupacken.

Dann, am sehr späten Nachmittag landen wir endlich bei uns Zuhause, pünktlich zum Fest. Die Wohnung sieht aus, als hätte da eine Bombe eingeschlagen, denn während sich meine Eltern um das Kochen, Braten und Backen gekümmert haben, beschäftigte sich unser Sohn mit der kreativen Raumgestaltung. Es sind nicht, wie es die polnische Tradition vorschreibt, 12 Speisen auf dem Tisch. Die wenigen Sachen aus dem ausgedehnten traditionellen Menü, die es diesmal bei uns gibt, schmecken köstlich, auch wenn hier und da etwas Salz fehlt und manches etwas angebrannt oder kalt serviert wird. Alles schmeckt fantastisch. Unsere ganze Familie sitzt am Tisch – wir dürfen alle zusammen sein. Alle dabei. Unter unserem Weihnachtsbaum türmen sich Geschenke, wie immer viel zu viele. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, das alles an diesem Heiligabend gut ist, so wie es ist, ganz jenseits der Perfektion. Dieses Jahr bin ich unendlich dankbar für alles, was wir haben und weiß, wie viel das ist.

Das Blaulicht

Was ihr hier seht, ist weder eine Kunstinstallation noch eine Aufnahme aus einer Disco. Es ist das Blaulicht eines Krankenwagens vor unserem Balkon. Diesmal leuchtete es nicht für uns, sondern für unsere Nachbarn.

Siebenmal hat uns der Rettungswagen letztes Jahr ins Krankenhaus gebracht. Jedes Mal war unsere Hela in einem elenden Zustand. Fast jedes Mal musste unser Sohn miterleben, wie seine komatöse Schwester und seine erschrockene Mama in dem Rettungswagen verschwanden und wegfuhren. Die Blaulichtfahrten hatten wir immer der Epilepsie in Verbindung mit diversen, teilweise schweren Infekten zu verdanken, mit einer einzigen Ausnahme von akuter Atemnot bei einer Bronchitis. Was Hela über die spektakulärste Krampfepisode geschrieben hat, könnt ihr hier nachlesen.

Ich kann mich erinnern, wie ich wochenlang meinen Klinikkoffer vor dem Entbindungstermin unseres Sohns gepackt habe. Der Inhalt wurde zwei oder gar dreimal mit den Check-Listen aus dem Schwangerschaftsbuch und aus dem Internet abgeglichen. Alles hatte seinen Platz, seine Richtigkeit und lag sorgfältig zusammengefaltet im Koffer in Erwartung auf den großen Tag. Dann muss ich daran denken, wie ich vor der ersten Fahrt mit dem Krankenwagen alles, was ich im Panikzustand für notwendig hielt, chaotisch in die Wickeltasche reingeworfen habe und wie sich nach dem zweiten, dritten, vierten Krankenhausaufenthalt mit unserer Tochter die neue Klinik-Checkliste in meinen Kopf eingebrannt hat. Irgendwann mal waren ich und der Papa imstande innerhalb von 3-5 Minuten die Kliniktasche für mich und das Kind einwandfrei zu packen. Die Klinikpyjamas lagen ja schon bereit im Schrank und beim Drogeriebesuch nahm ich die kleinen Proben, nicht um ein neues, tolles Körperpflegeprodukt zu finden, sondern weil die Dinge beim nächsten Krankenhausaufenthalt so praktisch sein würden. Irgendwann mal hieß es in der Bereitschaft zu leben. In dem Wissen, dass die nächste Katastrophe wahrscheinlich bereits vor der Tür steht. Keine langfristigen Pläne, jede Minute von der krankenhausfreien Zeit bestmöglich nutzen, um das Nötigste vor dem nächsten Klinikaufenthalt zu erledigen. Bloß nicht wehmütig werden. Bloß nicht zu viel nachdenken. In Bereitschaft bleiben.

Heute feiern wir ein Jahr ohne Krankenhaus. Das Blaulicht leuchtet nicht für uns. Hela ist aus ihren Klinikpyjamas ausgewachsen, mein Klinikpyjama habe ich entsorgt. Trotzdem schlägt mein Herz jedes Mal schneller, wenn ich das Martinshorn höre. Obwohl schon ein Jahr vergangen ist (und damit bald ein Fünftel des Lebens von unserem Sohn), meinte neulich Emil zu uns, als wir einen anderen Weg als sonst zu seiner Kita gefahren sind: „Ja, den Weg kenne ich schon. Den sind wir doch immer zum Krankenhaus gefahren, als Hela nicht atmen konnte.“ (Tatsächlich gab es zu dieser Zeit eine Umfahrung, die man auf dem Weg zur Klinik immer nehmen musste). Die Unruhe bleibt, denn wir können nie sicher sein, was die Epilepsie mit unserer Tochter noch vor hat. Scheinbar haben wir die Anfälle momentan im Griff und doch wissen wir, dass sich dies ganz schnell ändern kann.

Ich weiß nicht, ob dieser Beitrag je von einem Rettungssanitäter oder einem Notarzt gelesen wird. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle anmerken, wie dankbar ich jedes Mal dafür war, dass der Rettungswagen innerhalb von wenigen Minuten kam. Das Wissen, dass man nicht allein gelassen wird, dass professionelle Abhilfe schnell kommt und dass man sich darauf verlassen kann, dass sie kommt, macht das Ganze zwar nicht einfach aber doch viel einfacher zu ertragen. Was bei uns zulande für selbstverständlich gilt, ist in vielen Teilen der Welt ein Luxus. Wie ist es, wenn der Krankenwagen über eine Stunde für die Anfahrt braucht, weil es einfach viel zu wenige Rettungswagen und Rettungsteams gibt? Wie ist es, wenn man ein Kind in schwerem Zustand selbst ins Krankenhaus fahren muss? Oder was macht man, wenn es weder ein Krankenhaus noch einen Arzt in der Nähe gibt? In diesem Sinne: DANKE!!! Ich hoffe wir sehen uns nie wieder.

Krieg der Welten – mit Status Epilepticus ins Krankenhaus

Über Krankheiten und die moderne Medizin

Hela ist 2 und hat das Angelman Syndrom. Während gleichaltrige durch die Spielwiesen hopsen, widmet sie sich lieber scharfsinnigen Beobachtungen und stellt sich unerschrocken diversen Fragen philosophischer Natur. Könnte sie sprechen, würde sie möglicherweise das hier über ihre Epilepsieanfälle und den Status Epilepticus, der sie ins Krankenhaus auf die Intensivstation brachte sagen…

Ich mag vielleicht erst zwei Jahre alt sein aber über Ärzte und Krankheiten kann ich schon einiges sagen. Ärzte sind meistens feine Menschen. Häufig sind sie Idealisten: sie wollen die Welt verbessern. Sie wollen den Menschen helfen und die Krankheiten bekämpfen. Das ist wirklich löblich, allerdings musste ich in der letzten Zeit feststellen, dass dieser Kampf oft an meinem Körper ausgetragen wird. Die Viren, Bakterien oder die syndrombedingten Symptome greifen an und die Medizin versucht sie mit diversen Waffen abzuwehren.

Je heftiger die Attacke der Krankheitswelt, desto größer das Aufgebot der Medizin. Bei einem einfachen Schnupfen, wird ein Nasenspray in meiner Nase abgefeuert. Steigt bei mir das Fieber, kommen das Thermometer und die fiebersenkenden Mittel zum Einsatz. Wie ihr wahrscheinlich ahnt, ist das nur der Anfang einer langen Liste – nach oben gibt es elend viel Luft. Denn ein Nasenspray ist für die Medizin, was ein Umstandsuniform für schwangere Soldatinnen für das Militär ist – eine gute Sache aber Kriege gewinnt man mit anderen Mitteln.

mit Epilepsie ins Krankenhaus
Eine unabhängig von dem Text und den beschriebenen Vorkomnissen von Emil gestaltete Spielfigur

Das Militär hat Kasernen und Stützpunkte, Medizin hat ihre Krankenhäuser. Militär hat Hubschrauber, Medizin auch. Militär hat Panzer, Medizin hat Krankenwagen. Würde man das Waffenarsenal des Militärs und das der Medizin vergleichen, da bin ich mir sicher, dass Medizin mit Abstand gewinnen würde. Beide haben hierfür ihre High-Tech-Zulieferer, die spezielle Waffen eigens für das Militär bzw. Medizin herstellen. Schwer zu verstehen ist nur, dass weder die Armee noch die Krankenhäuser sie sich leisten können. Über die Preise der Militärprodukte weiß ich nicht viel, aber ich vermute, wer je einen Therapiestuhl aus eigener Tasche zahlen musste, könnte sich für dieses Geld auch einen kleinen Leopard II-Panzer mit 120 mm Glattrohrkanone leisten.

Es erscheint mir nur folgerichtig, dass unsere jetzige Verteidigungsministerin eine Ärztin von Beruf ist.  Militär und Medizin nehmen sich eben nicht viel. Die einen wie die anderen wissen, was ein harter Kampf ist.

Status Epilepticus

Ich weiß das auch schon, insbesondere nachdem für die neuste Schlacht im Krieg der Welten erneut mein Körper als Arena benutzt wurde. Diesmal eröffnete das Feuer ein minderer Infekt, als erstes Feuergefecht sozusagen. Der Infekt hat sich aber überlegt, als defensive Kampftaktik Fieber zur Unterstützung zu holen und das Fieber ist in unserem Fall ein enger Verbündeter der Epilepsie. Diese ging in die Volloffensive, griff mit brachialer Wucht an und ließ mich einfach nicht los. Die Maßnahmen, mit denen der Notarzt und die Sanitäter mich verteidigt haben, reichten nicht aus, auch wenn sie einiges an Medizinwaffen dabei hatten und nicht gezögert haben einzusetzen. Sie beschlossen mich ins Krankenhaus zu bringen, wo solche Kriege ja entschieden werden.

Dort wartete schon auf mich ein kleines Bataillon von Ärzten, Krankenschwestern und sonstigem Personal. Als ich eintraf, rief eine aus ihren Reihen:

„Da kommt der Status epilepticus!“ und meinte damit mich. Ich wusste, das war eine Kampfansage: die Medizin fängt jetzt den Frontalkampf an. Ich habe Angst gekriegt und ging erneut mit Epilepsie in Deckung.

Mit Status Epilepticus ins Krankenhaus

Als ich aufgewacht bin, war die Schlacht vorbei. Ich war in einem Raum voller Knöpfe, Bildschirme und Kabel, ganz wie in einem Raumschiff aus dem Bilderbuch von meinem Bruder. Mein Kopf, mein Brustkorb und mein großer Zeh waren an Monitore angeschlossen. In meinem Körper waren nun mehrere Einschusslöcher. Ich fühlte mich, wie ein Schlachtfeld sich eben nach einer Schlacht fühlt. Wach zu sein war jetzt kein Vergnügen, wirklich nicht. Daher machte ich meine Augen wieder zu und beschloss die nächsten Tage zu verschlafen.

Auf der Intensivstation

Was die Sicherheit im Kampf gegen die Krankheitserreger angeht, glich die Station, auf der ich mich befand, einem Atombunker. Alles wurde desinfiziert, sterilisiert und sauber gemacht, damit sich ja nicht mal das kleinste Virus da einschleust. Das Personal hat sich die Hände so oft desinfiziert und gewaschen, dass es fast ein Wunder ist, dass sie überhaupt noch von Haut bedeckt waren. Mein großer Bruder, ein Kindergartenkind und damit ein potenzieller Anführer der Schleuserbande für Viren und Bakterien, wurde auf die Station gar nicht erst hereingelassen. Ständig wurde da auch patrouilliert. Die Krankenschwestern, die Ärzte, dauernd kam jemand vorbei und kontrollierte, ob die Epilepsie keinen Hinterhalt oder Gegenschlag vorgenommen hat. Und am nächsten Tag kam die Visite.

Die Visite ist so etwas wie eine Stabsbesprechung bei der Armee. Man kennt das ja aus dem Fernsehen – Generäle und andere wichtige Menschen stehen am großen Tisch auf dem eine Landkarte ausgebreitet ist. Sie planen die nächsten Züge und sprechen ihre Strategie ab. Die Visite ist eigentlich das Gleiche, nur dass ich dann wieder die Rolle der Landkarte übernehmen muss. Die Visite wird von einem besonders erfahrenen Arzt angeführt und zieht mit Schwung durch alle Zimmer auf der Station. An jedem Patientenbett wird überprüft, wie die Lage an diesem Frontabschnitt ist und was für Maßnahmen die Mediziner ergreifen um die Frontlinie zu stabilisieren oder gar den Kampf an dieser Stelle erfolgreich zu beenden.

Die Uniforme der Mediziner

Alle Mediziner tragen ihre Uniformen. Es gibt welche in blau und manche in grün. Was allerdings keiner Uniformpflicht unterliegt sind die Schuhe. An den Schuhen kann man das Alter und oft auch den Rang des Mediziners unschwer erkennen. Die älteren Ärzte tragen immer sehr unauffällige Schuhe. Ihre Schuhe sind oft dermaßen unauffällig, dass wenn man nach der Visite überlegt, welche Schuhe der Arzt getragen hat, kann man nur aufgrund der bisherigen Erfahrung sagen, dass er überhaupt welche anhatte. Die jungen Ärzte hingegen (und manchmal auch die hippen Krankenschwestern) tragen Sportschuhe in knallbunten Farben: rosa, türkis, kanarienvogelgrün. Die Farbpalette ist wirklich beachtlich, die Marke der Schuhe jedoch fast immer gleich. Die meisten entscheiden sich, wie man es von  jungen aufstrebenden Ärzten erwarten würde, für die Marke, dessen Name für die griechische Göttin des Sieges steht: Nike. Die bunten Schuhe sollen sie zum Sieg tragen. Von mir aus gerne. Ich bin sehr für den Sieg der Medizin, denn ich bin der ständigen Kämpfe bereits jetzt schon satt.

Nun kommen wir zu meinem eigentlichen Anliegen. Ich habe eine große Bitte an die Krankheiten, an die Ärzte und Mediziner: Grundsätzlich bin ich für den Frieden aber wenn ihr schon irgendwo kämpfen müsst – geht bitte in die Forschung! Lasst meinen Körper in Ruhe. Eine Petrischale oder ein Computer geben doch auch exzellente Schlachtfelder ab. Ich danke euch im Voraus.

Eure Hela

Wenn du mehr darüber erfahren willst, warum ich so häufig an dem Krieg der Welten teilnehmen muss – also mehr über das Angelman Syndrom lesen willst, geh bitte zur Seite mit Infos zum Angelman Syndrom

U6 – Vorsorgeuntersuchung mit Behinderungen

Unsere erste Untersuchung mit einem behinderten Kind

Ein Bild von Emil

Die nächste Vorsorgeuntersuchung: die U6 steht in ein paar Tagen an. Ich mache da eher unfreiwillig mit  – beim Kinderarzt hat man darauf bestanden. Ich vereinbare den Termin am letzten möglichen Tag, auch die von der Krankenkasse festgelegte Toleranzgrenze endet am Tag danach. „Was soll das Gespräch über den Entwicklungsstand von unserer Tochter bringen außer der nächsten emotionalen Krise?“, denke ich mir. Ich kann mich erinnern, welche Fragen ich bei den U-Terminen von unserem Sohn gestellt habe und muss darüber schmunzeln: „Ob er keine krummen Beine kriegt von dem ganzen Herumgehüpfe?“, habe ich mich erkundigt, als er einige Monate alt war und sich immer wieder mit einer kleinen Unterstützung zum Stehen hochgezogen hat und gehüpft hat. „Ob ich die Fingernägel nicht zu kurz schneide?“, wollte ich tatsächlich wissen und „Wann er sich das Daumenlutschen abgewöhnen soll?“.

Diesmal muss ich fragen, ob das komische Zucken beim Einschlafen auf epileptische Anfälle hindeutet oder ob es auch bei uns ein harmloses Zucken gibt. Ist der Kopfumfang im Normbereich oder vielleicht zu klein? Solche Fragen, muss ich diesmal stellen, ohne die Fassung zu verlieren. Und auch Antworten liefern, die doch so schmerzhaft sind.  Zum Beispiel auf die von mir befürchtete Frage: „Was kann sie schon alles?“. Die Aufzählung fällt ziemlich knapp aus – wenn man den normalen Maßstab nimmt. Denn unsere Tochter hat ja viel gelernt in der letzten Zeit. Nur: „Sie liegt jetzt sehr gerne auf dem Bauch, hält viel länger den Blickkontakt und kann schon Bananen essen“ gehört bei einem 14-Monate alten Kind als Antwort zu einem anderen Fragenkatalog.Vorsorgeuntersuchungen mit behindertem Kind

Emil muss leider mit zur Untersuchung: Seine Kita ist zu, weil zu viele Erzieherinnen krank sind. Nur wenige Tage zuvor war er als Patient in der Praxis und musste bei einem Allergie-Test 20 Minuten lang ganz still sitzen. Um sicher zu gehen, dass er wirklich seine Beine nicht bewegt und damit die darauf getröpfelten Allergenstoffe nicht verlaufen, spielte ich ihm vom Handy den Film vor: „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“. In der Geschichte stellt ein kleiner Maulwurf, der gerade aus seinem Haufen herauskriecht, fest, dass ihm jemand auf den Kopf gemacht hat. Auf der Suche nach dem Übeltäter läuft er zu verschiedenen Tieren mit dem Kacka auf dem Kopf und fragt sie, ob sie ihm auf den Kopf gemacht haben. Den Film fand Emil wirklich lustig.

Als wir bei der U6 Vorsorgeuntersuchung von Hela schon seit einer Weile im Behandlungszimmer sind und ich gerade mit dem Arzt die vermeintlichen epileptischen  Anfälle bespreche, wird es ihm eindeutig zu langweilig. Auf der Suche nach Unterhaltung schaltet er sich deshalb in mein Gespräch mit dem Arzt ein:

„Mama, Kacka auf den Kopf!“, flüstert er mir zu. Ich beschließe zunächst die Frage zu überhören.

„Wie sieht das Zucken denn aus?“, fragt der Arzt.

„Hm, wie soll ich es beschreiben“, ich muss kurz nachdenken, wie ich das merkwürdige Verhalten in Worte fassen soll.

„Machen sie es ruhig nach“, meint der Arzt.

Während ich überlege, ob ich jetzt tatsächlich den vermeintlichen epileptischen Anfall vor dem Arzt nachzucke, verliert Emil den Rest seiner nicht mal 3 Jahre alten Geduld und verlangt laut und deutlich, mit einer fest entschlossenen Stimme:

„Mama! ICH. WILL. KACKA AUF DEN KOPF. JETZT!”

Ich werde rot und gerate in Erklärungsnot. Zum Glück kennt der Arzt die Geschichte vom “Kleinen Maulwurf, dem jemand auf den Kopf gemacht hat”. Er bietet Emil mehrere Gummibärchen an und so können wir das Gespräch doch zu Ende führen. Ohne, dass ich zucken muss.

Danke, Emil, mein kluger, kluger Sohn!